Urs Böke & Charlie Parker

Über einen Gedichtband von Urs Böke

 

Kürzlich las ich im Feuilleton einer großen deutschen Zeitung ein Gespräch mit Dichtern, die

hierzulande im Literaturbetrieb anerkannt und fest verwurzelt sind. Einer gar als Leiter einer

literarischen Einrichtung. Ihre Aussagen und Gedichte wirkten auf mich überwiegend blutleer.

Vielleicht ist das ein Grund, warum sich Dichter dieser Art nicht selten auf irgendeine Weise mit

charismatischen Gestalten der Dicht- und Popkultur (Dylan, die Beats, Hunter Thompson,

Rimbaud, Richards etc.pp.) beschäftigen oder öffentlich über sie fachsimpeln – um sich von deren

Lebenssaft etwas abzuzapfen. Das funktioniert bloß nicht, denn – und damit sind wir bei unserer

Überschrift – wie Charlie Parker mal gesagt hat: „Wenn du’s nicht lebst, kommt’s auch nicht aus

deinem Saxophon.“

Nun muss man die Gedicht von Urs Böke nicht mögen, auch lässt sich trefflich über ihre Qualität

streiten, aber man erfasst unmittelbar, dass er lebt, was aus seiner Feder fließt. Das

Lebensumfeld, in dem sich Bökes Gedichte bewegen, ist eine verfallende – innere oder äußere –

Industrielandschaft. Dort schreibt er (vermeintlich?) unentschieden zwischen Zynismus und

Empathie schwankend über

 

Die Unmöglichkeiten gerader Biografien

das Leben als Bordstein ohne Parkuhr

getrieben zwische Nacht und Asphalt

letzte Entscheidungen zwischen

Knast und Arbeitsamt (aus: Radierungen)

 

und über

 

Orte die nicht genannt werden dürfen

an denen sie vor den Monitoren sitzen

fettgefressen

wohlhabend

tötend

 

Orte die nicht genannt werden dürfen

an denen sie hinter Gitter sitzen

magernd

soziopathisch

therapieresistent

 

[…]

 

Orte die manchmal Hinterzimmer sind

an denen sie vor den Monitoren sitzen

vom Reichtum ausgedörrt

soziopathisch

völkermordend

 

Orte die manchmal Hinterzimmer sind

an denen sie ihre Krawatten lockern

wenn ihre Bilanzen und Kurse

ganze Nationen verarmen (aus: Vor den Monitoren)

 

und Böke sinniert über Grenzen und Möglichkeit von Mitleid und Gleichgültigkeit angesichts von

Natur- und anderer Katastrophen. Man mag vielleicht wünschen, Böke wäre beim Tsunami in

Phuket dabeigewesen; man mag ihn aber auch zu schätzen wissen, diesen seltenen Versuch von

schonungsloser Ehrlichkeit:

 

[…] ich kann nicht behaupten

Mitleid zu fühlen in diesem Moment

ich kann nicht behaupten

gegen Katastrophen zu sein

 

[…]

 

Ich kann nicht behaupten

jemals in Phuket gewesen zu sein

aber was ich behaupte,

wird niemals bewiesen:

 

Unter den Opfern waren

europäische Kinderficker

amerikanische Kriegstreiber

asiatische Arschlöcher

 

Im Zenit der Gleichgültigkeit

lege ich mir ein Handtuch bereit

und erwarte sardonisch!

dass es auch hier nass wird. (aus: Vom Beckenrand)!

 

Charlie Parkers Musik hält nicht jeder aus. Bökes Gedichte vielleicht auch nicht. Aber das, was aus

seiner Feder fließt, hat er niemandem abgezapft. Und um die angesprochene Empathie auch noch

zu Wort kommen zu lassen, hier noch ein paar Zeilen, die Böke an seinen Dichterfreund

Hadayatullah Hübsch richtet:

 

[…] lese ich ein Gedicht von einem

Dichter aus Frankfurt östlich lese ich und verstehe nun

endlich seine tatsächlichen Worte „Wir müssen nicht so

kaputt sein wie die Welt.“! ! ! (aus: Für einen aus Frankfurt)

 

(C) 2015 Axel Monte