Stadtmagazin coolibri, Januar 2016

Und dann stehst du da mit deinen gefrorenen Zähnen –
neue Gedichte von Urs Böke

 

"Pack schlägt sich" – unter diesem einschmeichelnden Titel wirft Urs Böke im November 2015 den bereits zweiten Gedichtband innerhalb kürzester Zeit in den Ring (nach dem ihm gewidmeten Autorenheft "Weiche Ziele" der Reihe LaborBefund, welches verstreute Gedichte der Jahre 1998 bis 2015 sowie die Gedichte des 2006 erschienenen und inzwischen vergriffenen Bandes "Störung Mensch" in einer vom Autor überarbeiteten Fassung beinhaltet). Erschienen ist "Pack schlägt sich" in Rodneys Underground Press (kurz: RUP), die sich in der jüngeren Vergangenheit als Sammelbecken für Social Beat-Veteranen (Story- und Lyrikbände von Jan Off, Kersten Flenter oder Herausgeber Roland Adelmann himself), aber auch als Heimstatt der Literatur-Zeitschrift MAULhURE etabliert hat.

 

Das von Jenz Dieckmann (Inside Artzine) gestaltete Frontcover von "Pack schlägt sich" zeigt zwei in Eiswürfel eingefrorene Zähne – meine erste Assoziation sind die dritten Halbzeiten bei den Spielen der von Böke verehrten Regionalliga-Mannschaft von Rot-Weiß Essen. Selbstverständlich aber bewegt sich das Wort "Pack" gerade in diesen Tagen ebenso auf einer politischen Ebene, nachdem Sigmar Gabriel unlängst rechte Krawallmacher zu Recht als eben solches bezeichnete. Ungewohnt klare Worte vom Vizekanzler, die in den Gedichten von Urs Böke schon lange auf der Tagesordnung stehen. Buchtitel wie "Land ohne Verfassung", "Eine Hinrichtung irgendwo" oder "Das Land gefährden" zeugen von einem Autor, dessen Texte schon immer politisch motivierte Kampfschriften gegen knüppelnde Polizisten, Kriegstreiber und Fanatiker jeglicher Couleur waren. Und natürlich gehen auch aktuelle Themen wie die Flüchtlingssituation und die damit in Zusammenhang stehende rechte Meinungsmache nicht spurlos (und schon gar nicht unkommentiert) an ihm vorbei:

 

BUNTE KUH

Sie kentern in kleinen Booten. Ihre Leben
sind in trüben Fahrwassern gezeugt. Sie kentern
wegen uns. Wegen Ressourcen. Sie kentern.

 

Weil Unbarmherzigkeit eine Erfindung
des Wohlstands ist. Wir lassen sie kentern.

 

Wir werden satt. Von ihrem Hunger. Und na ja:
Ein paar dürfen schon durchkommen. Die Grenzen
hinter sich lassen. Es ist eben so: Manchmal sind wir
eben geil. Auf Exotenfleisch im Puff. Und überhaupt.

 

Irgendeiner muss den Müll ja wegräumen.

 


Harter Tobak, wie so oft bei Böke, provokant und mehr als deutlich in Meinung und Sprache, aber Politik ist nicht alles – nicht im Leben, und auch nicht in Bökes Gedichten. In den sechsundvierzig vorliegenden neuen Gedichten beackert er ein breites Themenfeld mit tiefen Furchen – Beziehungsknollen (um noch kurz im Bild zu bleiben) wechseln sich mit dem Arbeitsalltag geschuldeter Frustration ab, die Geißelung geistigen Spießertums folgt auf Kneipengedichte alter Schule ("Wie Bukowski mir einen Fick versaute"). Die durchaus vorhandenen zarten, ja zärtlichen Momente drohen unter dem aufgebauten (und abgelassenen) Druck übersehen zu werden, was nicht nur schade wäre, sondern auch zu einer verfälschten Gesamteinschätzung führen würde. Böke schreibt mehrheitlich über Missstände, ist aber dennoch (oder vielleicht auch deshalb) fähig zu differenzieren und Schönheit wahrzunehmen und zu benennen, was ihn wohltuend von einem nörgeligen Grundsatzmeckerer unterscheidet.

Pack schlägt sich – das ist ja erst der erste Teil jenes Sprichwortes, das bekanntlich mit Pack verträgt sich endet und schlussendliche Versöhnung suggeriert. Aber davon ist Urs Böke noch weit entfernt.

 

Stefan Heuer, lyrikwelt.de


Urs Böke (eines der stärksten Gedichte sicher "Radierungen" in LaborBefund 19, der dort mit "Phase I" und "Vor den Monitoren" eine Art inneres Sittenbild, eine Sicht seines Geburtsjahrgangs auf Vergangenheit wie gegenwärtige Eopche erfasst) gibt nun in "Pack schlägt sich" (RUP) zwar den Misanthropen ("Zurück ins Geschenen", "Einwegkörper"), jedenfalls subjektiv womöglich zurecht: "Die Eignung von Herrn M." und "Frühe Frustrationen" sind präzise poetische Belege eines -berechtigten- Spannungsverhältnisses zum Pädagogenstand, zumindest bestimmten Vertretern desselben; "Die Eignung von Frau M." ist eine scharfe, weil entlarvende Analyse in sieben kurzen Strophen. Ein Erstklässler wird wegen eines frechen Spruchs in die Ecke gestellt. Klug von Frau M. wäre gewesen, den Siebenjährigen zu fragen, warum er Gott für eine Schmeißfliege halte (nebenbei, manche Zen-Meister arbeiten mit solcher Drastik). Frau M. steht symbolisch für eine bestimmte Lehrergeneration, mit einem Bein noch halb in der schwarzen Pädagogik. Das prägt. Vielleicht sollten Böke-Leser Frau M. dankbar sein für dessen Scharfsicht und Kombinationsfähigkeit.
Der "Zustand nach Geburt" dokumentiert die Wahrnehmung, dass etwas nicht stimmt und "Stellungskriege" dürfte den Punkt berühren, was es ist, das nicht stimmt, "Die Grenzen haben sich wieder verschoben...", auch "Krieg II" - das Wort "Regierungen" einzig könnte eine künftige Fassung präzisieren...existiert ein poetologischer Begriff für multinationale Konzerne? Böke könnte der sein, der ihn erfindet bzw. decodiert; mit "Wirtschaft & Raum" ist er schon nah dran. "Emotion No. 1" starkes Poem, geteilter Meinung kann und soll man sein, ob "hassen" letzlich die richtige Antwort ist, doch Böke ist klug, denn er stellt anheim, so läßt sich z.B. das philosophische "Im Teehaus" vor allem als Koan lesen. "Bunte Kuh" ein Volltreffer, zurecht bewirbt RUP den Gedichtband damit. Die Pointe in "Wie Bukowski mir einen Fick versaute" scheint mir versemmelt, eher schwaches Gedicht unter ansonsten sehr starken.
Es sind Sätze wie "Wenn die Möglichkeit des Zusammenlebens / sich auf Verletzungen reduzieren / bleibt die Wohnung leer zurück" ("Letzte Stromversorgung"), in denen Bökes Stärke sich zeigt. Dass der Misanthrop freilich Schutzpanzer ist, zeigt sich an drei Stimmungen. Zum einen outet sich Böke als Freund von Amseln ("A 40", auch "M35I" im LaborBefund 19), zum zweiten ist ihm mit "Der Lange Weg vom Linoleum in die Welt" ein Poem gelungen, unschwer erkennbar Lütfiye Güzel gewidmet, für das, und sei`s platonisch, in jedem Falle nur ein Begriff gelten kann, Liebesgedicht, denn es erfasst einen Mitmenschen in ihrem Sein, ihrer poetischen Kraft, (vermeintliche) Schwäche in Stärke zu verwandeln.
Zum dritten, und Böke ist ebenfalls Sensitivität und Stärke zugleich: er erkennt und benennt, dass wir als Seelen, menschliche Wesen nie fertig sind, sondern stets in einem Prozess, in Phasen (poetischer Code "Zwiebelgewächse" in, nun ja, bedingt passender Titel "Kraut & Rübe ab!") Dass Böke mit einem Flaubert-Zitat eröffnet, verwundert kaum - Rimbaud hätte auch nicht recht gepasst.
Klasse Cover von Jenz Dieckmann.“

-Leserbrief an den Verlag RUP