Nachtrag: Die digitale Tinte ist noch nicht getrocknet, da überrascht mich mein Briefkasten bereits mit einem weiteren Gedichtband – wieder von Urs Böke, wieder in der edition footura black von Karl-Friedrich Hacker erschienen, gleiche Aufmachung, gleiche Limitierung. Und so als hätte Böke mich gehört bzw. auf meine Rezension zu seinen Liebesgedichten reagiert (was zeitlich natürlich nicht möglich ist), haut er mir jetzt Gedichte um die Augen, welche die Liebe in (vorerst) weite Ferne rücken lassen. Land ohne Verfassung, so der Titel des neuen Bandes, zeigt einen äußerst kämpferischen, politischen, bis zur Schmerzgrenze aggressiven Autor, der zu einem Rundumschlag gegen jeden ausholt, der es verdient hat: Kriegstreiber und Rüstungsmagnaten, behäbig wiehernde Amtsschimmel, Hartz IV-Befürworter („[...] Ein Hartz IV-Bezieher / benötigt pro Tag / für Nahrung / 4 Euro plus ein paar Cent // Ein deutscher Polizeihund / benötigt pro Tag / für Nahrung / 6 Euro und ein paar Cent // Aber der / arbeitet ja auch“), chilenischen Rotwein trinkende und dabei Sting hörende Gutmenschen, politische und religiöse Fanatiker, Reformer und ihre zweifelhaften Reformen, knüppelnde Polizisten, Großindustrielle mit Nazi- Biografie.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass man sich akut keine Gedanken machen muss, aber grundsätzlich würde wohl jeder Psychologe davon abraten, Böke ein Messer in die Hand zu drücken – aber muss ja auch nicht, seine Texte sind scharf genug.

satt.org/ Stefan Heuer

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll... vielleicht damit: Ich bin begeistert. Heute lag Urs Bökes neuer Gedichtband bei mir im Briefkasten. Titel: „Land ohne Verfassung“ – ein kleines Büchlein, und wie sein bereits 2012 erschienenes Buch „Eine Hinrichtung irgendwo“, aufwendig von Hand gesetzt und streng limitiert (50 Exemplare). „Underground pur“, so Böke.
Doch noch schöner als das Buch anzufassen, ist es darin zu lesen. Anders als bei den meisten Gedichtbänden, legte ich diesen erst wieder aus der Hand, als ich auf der letzten Seite angekommen war.
Bökes Poesie war schon immer besonders – besonders gut, besonders drastisch und weit weg von Phrasen und Klischees. Wo andere Dichter zwei Seiten brauchen und den Punkt immer noch nicht treffen, trifft Böke mit nur zwei Zeilen voll in die Magengrube. Seine Sätze bleiben im Hals stecken, sind bitter und teilweise böse. Andererseits macht die scheinbare Leichtigkeit mit der Böke seine Worte findet das Ganze dann doch bekömmlich – wie ein durch die Luft segelnder Molotowcocktail, der letztendlich genau da einschlägt, wo er gebraucht wird.
Keine Mogelpackung also, sondern gute Medizin für die Bewohner des „Landes ohne Verfassung“, in dem der Tagessatz eines Hartz-IV-Empfängers niedriger ist, als der eines Polizeihundes.
Es ist das Land der Gutmenschen, die nie eine Revolution zu Ende führen, sondern lieber ihren Saab polieren; das Land der Dichter und Denker vor der Sportschau; das Land, aus dem den deportierten Juden ihre Koffer nachgeschickt werden sollten.
Ja, Bökes Lyrik tut weh. Doch sein Hass und seine Wut sind nur berechtigt.
Ich bin stolz darauf, nun eines der 50 Exemplare zu besitzen und weiß schon jetzt, dass dieses Buch mehr Zeit neben meinem Bett, auf dem Klo oder Schreibtisch verbringen wird, als im Regal. Ganz große Literatur – und trotz einiger anderer nennenswerter Neuerscheinungen, der bisher beste Gedichtband dieses Jahres.

Benedikt Maria Kramer

superbastard.de


Der Autor Urs Böke (*1975) lebt in Essen und gilt vielen als Autor des „social beat“, als Verfasser „gesellschaftskritischer Texte“ und „Rimbaud aus dem Ruhrpott“.

Dergleichen „Klassifizierungen“ liebt der deutsche Leser, denn nichts beruhigt ihn mehr als die passende Schublade für das Außergewöhnliche, das Originelle und Individuelle. Man spießt den Schmetterling doch gar zu gern auf eine Nadel und präsentiert ihn anschließend im Schaukasten, bzw. Bücherregal.

 

Die Texte von Urs Böke entziehen sich jedoch allen Schablonen, passen in keine Schublade und keinen Schaukasten – wie der neue Lyrikband dieses Autors in der edition footura black beweist.

 

Dem Verleger dieses Werkes möchte ich an dieser Stelle respektvoll die Hand schütteln, denn er präsentiert die Texte geschmackvoll und mit solidem Handwerk in einem anspruchsvollen Handpressendruck. Die Exemplare sind nummeriert, das Papier und der Druck von ausgezeichneter Qualität. Die Ausgabe ist jeden Cent ihres (akzeptablen) Preises wert und kann wohl schon jetzt zu Recht als bibliophil bezeichnet werden.

Aber was nutzt die schönste Präsentation fauler Äpfel, wie sie uns so oft im Buchhandel geboten werden? Und genau hier kommen wir zum Essentiellen, nämlich den Texten Urs Bökes:

 

Auf 28 Seiten las ich Poesie aus der Wirklichkeit; damit meine ich keine „kritischen“ oder „anklagenden“ Texte aus der Realität, kein Geschwurbel über Befindlichkeiten des Gutmenschen oder Gejammer über soziale Ungerechtigkeiten, ach ja.

 

Natürlich spart Urs Böke weder das Thema „Hartz IV“ noch andere Realitäten aus; man müsste schon blind und taub sein – wie leider zu viele Autoren und Leser -, wollte man in der Poesie die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Urs Böke gelingt es, Situationen und Zustände der Realität präzise und zugleich poetisch zu benennen; seine Sprache offenbart die Wirklichkeit, weil sie aus dieser bezogen wird und sie zugleich manifestiert.

 

In diesem besten, weil poetischen Sinne wirkt die Sprache des Autors teilweise brutal – weil sie von Brutalität spricht, bzw. diese thematisiert. So z. B. in dem Text „Alle reden vom Wetter“, der als harmloser „Reisebericht“ beginnt: „Und wenn es / darauf ankommt / fährt die Bahn / pünktlich“; dann folgen einige Zeilen über den „Service“ der Bahn, z. B. nachgeschickte Gepäckstücke. Auch technische Mängel, wie z. B. Radbrüche, die an katastrophale Unfälle wie Eschede erinnern, werden erwähnt; und der Leser nickt beruhigt, ja ja, wie gut dass die Bahn gleich reagierte und ihrer Sorgfaltspflicht nachkam. Da kann man beruhigt auf Reisen gehen, sogar mit zwei Kindern an der Hand.

Doch plötzlich findet sich das lyrische Ich in einem Viehwaggon wieder, der aufgrund technokratischer Perfektion wie in der Vergangenheit, so auch heute rollt. Mit unbekanntem Ziel. Dem Leser fallen nicht nur zwei Zeitebenen, sondern ganze Welten (in doppeltem Sinne) zusammen:

 

„Kein Herbstlaub

auf den Schienen

kein Robert Enke

kein Radbruch

 

Diese Gründlichkeit

ist Jahre her

 

Doch noch immer

bin ich Jüdin.“

 

Die klaren und wenigen Worte, präzise und treffend in ihren Konnotationen, konstituieren eine Poesie aus der Wirklichkeit, die den Leser zutiefst trifft. Und dies ausgerechnet beim „Betroffenheitsthema #1“ der Deutschen: Holocaust.

 

Aber auch andere Themen der Gegenwart werden nicht ignoriert, im Gegenteil: der tägliche Verpflegungssatz von Hartz IV-Empfängern wird gegen die Ernährungskosten von Polizeihunden aufgerechnet – man ratet nicht lange, wie dieser Vergleich ausfällt. Doch schon dieser Vergleich von Menschen (und deren Nahrung) mit Hunden und (deren Futter) offenbart eine „Höhere Mathematik“ (so der Titel des Gedichts), die sich dem normalen Menschenverstand nicht mehr erschließt – aber den Technokraten als Basis für angebliche „soziale Reformen“ dient.

 

Böke schreibt über den All-Tag, den all-gegenwärtigen Irrsinn und Wahnsinn; über eine Welt, die aus den Fugen geraten ist und den Einzelnen sich als immer hilfloser und ohnmächtiger empfinden lässt – und dies in vielerlei Hinsicht, ob nun in Bezug auf Arbeit, Zwischenmenschlichkeit, Liebe, Terroranschläge, Medien… Es gibt kein Sujet, das sich dem Autor entzieht; er ist jeder Sprache mächtig, um diese Wirklichkeiten poetisch zu manifestieren.

 

Schon während der Lektüre dachte ich öfter an die folgende Stelle im Brief Hölderlins an Casimir Ulrich Boehlendorff (Nürtingen, den 2. Dezember 1802):

 

„(…) ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.“

 

Und ja : ich behaupte, dass Urs Böke in diesem besten Sinne „vaterländisch und natürlich, eigentlich originell“ singt, wie leider nur wenige andere Autoren der Gegenwartsliteratur. Und ich höre schon den Aufschrei der „Politisch Korrekten“, sehe achselzuckend das Gebaren der „national Gesonnenen“ bei diesem Wort: „vaterländisch“.

Sicher : mit genügend Ignoranz und Unkenntnis kann man auch aus Hölderlin einen Nationalisten machen. Ich kann hierzu nur eines sagen : mir schlug bei der Lektüre von Bökes Gedichten das Herz, und das sitzt bekanntlich links.

 

Urs Böke ist kein „Rimbaud aus dem Ruhrgebiet“, kein „Hölderlin“ oder „Socialbeat Poet“; sein Werk hat keinerlei Vergleiche mit „großen Namen“ nötig, denn es ist ein eigenständiges und unverwechselbares Werk mit eigener „Sangart“ und Stimme. Der Mann hat einen Sound wie ein Symphonieorchester.

 

Ich kann dieses Buch nur jedem Leser empfehlen, und auch hierzu fallen mir Worte Hölderlins ein:

 

„Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Kompendium, und um das fabula docet* sich zu sehr bekümmern, indes die andern gar zu leicht es nehmen, und beide Teile verstehen es nicht.“

 

* lat.: Die Fabel will belehren und unterhalten (fabula docet et delectat).

 

Urs Bökes Texte sind nicht "einfach so" zu verstehen und schon gar nicht "leicht zu nehmen". Und genau deshalb sollte man sie unbedingt lesen.

Zeitschrift Laborbefund laborbefund.jimdo.com

Zwei Gedanken wenn ein neues Buch von Urs Böke im Briefkasten liegt:

  1. Endlich was neues von Böke
  2. Dann wird es wohl heute kein spaßiger Tag mehr

Nach „Eine Hinrichtung irgendwo“ erscheint mit „Land ohne Verfassung“ das zweite Buch bei footora black, wieder im schönen Handpressendruck, wieder auf 50 limitiert.

Die Texte sind zwar alle nicht so neu, aber in dieser Zusammenstellung das erste Mal gebündelt (denke ich zumindest). Und schon die Einleitung „Krieg“ ist so genial und im letzten Satz direkt auf den Punkt, dass man weiß, auf den nächsten Seiten kann nichts schief gehen. Und natürlich geht nichts schief.

Böke bleibt immer dran, an denen die unten sind und an denen die nach unten treten. So kommt es auch zur bitteren Erkenntnis, dass ein Hartz IV Empfänger 2 Euro weniger am Tag an Nahrung benötigt als ein Polizeihund, aber, wie Böke lakonisch bemerkt, dieser arbeitet ja auch.

Urs Böke lässt seiner Wut freien Lauf, ist dabei aber nie unreflektiert, sondern schießt direkt auf das Ziel und kennt die Punkte, die er treffen muss, damit der Feind die Einschläge auch spürt. Was ich besonders gelungen finde ist, dass er dabei lyrisch bleibt, sehr diszipliniert (darf ich das sagen?) und seine Texte nicht ausfasern lässt, sondern sie in engen Bahnen lenkt.

Ein in allen Facetten gelungenes Buch, welches bei einer 50er Auflage sicher bald vergriffen sein wird.

Jerk Götterwind

Wer sich für Lyrik interessiert, kommt an Böke nicht mehr vorbei. "Land ohne Verfassung" ist sozusagen die Fortsetzung seines Meisterwerks aus dem Jahre 2012. Der Rimbaud unter den Glatzköpfen.

undergroundpress.de